S. Haeberli: Der jüdische Gelehrte im Mittelalter

Cover
Titel
Der jüdische Gelehrte im Mittelalter. Christliche Imaginationen zwischen Idealisierung und Dämonisierung


Autor(en)
Haeberli, Simone
Reihe
Mittelalter-Forschungen 32
Erschienen
Ostfildern 2010: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

In ihrer 2008 eingereichten germanistischen Dissertation macht es sich Simone Haeberli zur Aufgabe, eine Geschichte der christlichen Imagination jüdischer Gelehrter und jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter zu schreiben. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf Entwürfen jüdischer Gelehrtenfiguren, während das, was christliche Autoren für jüdisches Wissen und jüdischen Glauben halten, situativ in den Blick kommt. Letztlich nimmt die Monographie damit eine in ihrem Untertitel umrissene Teilperspektive in Bezug auf die vom Buchtitel aufgeworfene Frage nach dem jüdischen Gelehrten im Mittealter auf. Haeberli rechtfertigt ihren an Texten und nicht an Praktiken oder sozialen Ordnungen orientierten Ansatz mit einer Darlegung wesentlicher Einsichten postmoderner Geschichtstheorie: Mit Hayden White, Hans-Werner Goetz und Hans-Jürgen Goertz wird einleitend hervorgehoben, dass historische Ereignisse dem Historiker stets textuell vermittelt und damit gedeutet vorliegen (Haeberli nennt das: ‚als Fakten‘), weswegen der Schwerpunkt historischer Arbeit nicht in der Rekonstruktion einer irgendwie umgedeuteten Wirklichkeit, sondern in der Analyse zeitgenössischer Deutungen zu liegen habe. Insofern präsentiert sich ihre Darstellung als Teil einer Vorstellungsgeschichte, die vorrangig fragt, was mittelalterliche Individuen und Gruppen gedacht haben (könnten).

Durch diesen methodischen Ansatz umgeht die Autorin die Notwendigkeit, ausführlich der Frage nachzugehen, ob etwa bestimmte literarisch überlieferte Disputationen zwischen Christen und Juden tatsächlich stattgefunden haben. Der programmatische Verzicht auf eine Einteilung der Quellen in historisch-faktuale und literarisch-fiktionale trägt diesem Ansatz ebenso Rechnung wie der Tatsache, dass solch eine klare Differenz im Bewusstsein mittelalterlicher Autoren und Leser nicht schlechthin vorauszusetzen ist. Gleichwohl behandelt Haeberli nach einer dem ersten Teil vorbehaltenen umfassenden Darstellung der Voraussetzungen mittelalterlicher Bilder von gelehrten Juden (S. 15-65) im zweiten Teil vorrangig nicht-literarische, nämliche chronikalische, religiöse, theologische, philosophische Texte (S 67-124), worauf sie sich im dritten und deutlich umfangreichsten Teil Gelehrtenfiguren in der mittelhochdeutschen Literatur zuwendet (S. 125-294).

Der erste Teil ist den konzeptionellen Rahmenbedingungen der mittelalterlichen Judendarstellung gewidmet. Haeberli postuliert, bestimmte Leitvorstellungen und Denkweisen ausmachen zu können, die grundsätzlich paradigmatisch wirkten, also alle christlichen Zugänge zu Juden oder jüdischer Gelehrsamkeit präformierten. Gelegt worden seien diese Grundlagen zumeist in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Die Patristik habe dem Mittelalter ein spezifisches Geschichtsmodell vermacht, das erlaubte, Ereignisse konsequent als Teil eines göttlichen Heilsplans zu verstehen. Sogar noch folgenreicher sei die Methode der Typologie als zentrales Mittel der Bibellektüre gewesen, denn sie habe es ermöglicht, jüdische Personen und jüdisches Denken stets in Bezug zu Christlichem zu setzen und Juden wie ihre Lehren und Gebräuche ausschließlich als Vorformen christlicher Personen, Überzeugungen und Praktiken zu deuten. Im Umkehrschluss habe daraus eine starke Tendenz resultiert, die nach der Inkarnation Christi und vor allem in der eigenen Gegenwart lebenden Juden abzuwerten, da sie sich in christlicher Sicht dem göttlichen Heilsplan verschlossen und nicht mehr typologisch funktionalisiert werden konnten. Die Veränderung des Christusbildes mit einer sukzessiven Zuwendung zu seinem individuellen Leiden und die damit einhergehende Passionsfrömmigkeit hätten seit dem Hochmittelalter ein Einfallstor für antijudaistische Polemik geöffnet. Schließlich habe die Karfreitagsliturgie die Sonderstellung der Juden allen Christen jährlich vor Augen geführt. Zwar schlossen diese Rahmenbedingungen nach Haeberli nicht aus, dass unterschiedliche, durchaus auch einigermaßen positive oder zumindest nicht eindeutig negative Bilder von (gelehrten) Juden im christlichen Imaginarium entwickelt wurden, sie prägten jedoch die Wahrnehmung und Vorstellung der Christen ganz erheblich. Insgesamt war damit die Dominanz einer negativen Haltung zu den jüdischen Gelehrten und ihrer Kultur wenn nicht unausweichlich, so doch naheliegend.

Ein solcher strukturalistischer Ansatz ist mutig, da er notwendig abstrahierend vorgeht und in seiner Selektivität wichtige andere Überzeugungen und Denkstrukturen übergeht, insgesamt gelingt es Haeberli aber trotz solcher Fallstricke überzeugend, die Wirksamkeit dieser Bedingungen über ihren gesamten Untersuchungsraum nachzuweisen, ohne dass daraus ein allzu statisches Modell resultierte. Bei aller longue durée der Überzeugungen zeichnet sie immer wieder historischen Wandel und Einschnitte in der Vorstellungsgeschichte nach und kann zugleich große Linien so klar markieren, dass ihr für eine Dissertation sehr ambitionierter, vielfach bis in die Patristik zurückgreifender und bis ans Ende des 15. Jahrhunderts reichender, sich erst im dritten Teil auf das Reich einengender Untersuchungsraum untersuchbar und für den Leser überschaubar bleibt.

Warum allerdings das christliche Bild der Juden seit dem Hochmittelalter merklich verdüstert und im Spätmittelalter scharfe Polemik und Ablehnung vorherrschen, kann mit diesem Verfahren nur tentativ beantwortet werden, etwa durch Verweise auf neue Frömmigkeitsformen, veränderte ökonomische Gegebenheiten und eine zunehmende Kenntnis nichtchristlicher kultureller Traditionen. Um hier über solche Hinweise hinausgehen zu können, müsste die Geschichte der Vorstellungswelt umfassender und konsequenter gleichermaßen in Referenz auf soziale, religiöse und denkerische Formationen kontextualisiert werden. So dürfte etwa die gelehrte Imagination in Bezug auf die Juden stärker von einer immer umfassenderen christlichen Kenntnis griechischen und arabischen Wissens geprägt sein, als dies in Haeberlis Darstellung deutlich werden kann. In den letzten Jahrzehnten konnte außerdem in mikrohistorischen Studien gezeigt werden, dass vielfach das Zusammenleben zwischen Juden und Christen und in diesem Rahmen auch christliche Wahrnehmungen jüdischer Gelehrter von lokalen sozialen Bedingungen geprägt waren. Insofern dürfte die zu besprechende Monographie mit ihrem Versuch, großflächige Trends und motivgeschichtliche Entwicklungen nachzuzeichnen, die erhebliche phänomenale Varianz in konkreten Handlungs- und Deutungskontexten unterschätzen.

Besonders deutlich werden neben den Vorteilen die Kosten einer Vorstellungsgeschichte, die sich vorrangig dafür interessiert, bestimmten Motiven in Quellentexten nachzuspüren, im zweiten Teil der Arbeit. Haeberli wertet hier verschiedene christliche Quellen aus, um zunächst christliche Aussagen zur jüdischen Gelehrsamkeit zusammenzutragen, die häufig auffallend positiv ausfallen. Vielfach stellen christliche Autoren Juden als vorbildlich in ihrem Streben nach Wissen dar. Neben solch allgemeinen Einschätzungen steht seit karolingischer Zeit und verstärkt mit dem Beginn der Scholastik das Interesse christlicher Gelehrter an bestimmten jüdischen Wissensinhalten. Am deutlichsten wird dies in der auf Hieronymus zurückgehenden Anerkennung der jüdischen Sprachkompetenz, denn Haeberli kann zahlreiche christliche Theologen anführen, die erkennen, dass ein zumindest mittelbarer Zugriff auf den hebräischen Bibeltext insbesondere für ein Verständnis des Literalsinns unerlässlich ist. Außerdem glaubte man, nur so jüdischen Einwänden gegen eine meist typologisch gestaltete Apologie des eigenen christlichen Glaubens begegnen zu können. Mit dem Bekanntwerden des Talmud erhielt die Rezeption jüdischer Gelehrsamkeit eine neue, vielfach negative Stoßrichtung, da sich an diesem, die Christen durch seinen nichtdogmatischen, uneinheitlichen Charakter überfordernden Werk leicht Abgrenzungsbewegungen gegen zeitgenössische Juden wie die jüdische Gelehrsamkeit generell manifestieren konnten. Dennoch traten im Hochmittelalter immer stärker einzelne jüdische Gelehrte namentlich in christlichen Texten hervor, am prominentesten sicherlich Moses Maimonides, dem als Philosoph und gelegentlich sogar als Theologe großer Respekt gezollt wurde.

Über weite Strecken bleibt die Darstellung hier (mit einigen Nuancierungen) dem verpflichtet, was andere Forscher bereits zusammengetragen haben, ohne jedoch darauf zu verzichten, die Argumentation mit gut ausgewählten Quellenzitaten zu unterstützen. Dass grundsätzlich davon abgesehen wurde, lateinische Zitate zu übersetzen, ist übrigens bedauerlich, zeigen doch Haeberlis einführende Darlegungen zur Typologie oder Christusfrömmigkeit, dass sie ihr Publikum nicht ausschließlich unter professionellen Germanisten und Historikern vermutet. Gerade in diesem zweiten Teil wäre es wünschenswert gewesen, wenn neben der Bezugnahme auf namentlich gekennzeichnete oder anonyme jüdische Gewährsmänner in christlichen Texten und einer Darstellung der Imagination jüdischer Gelehrtenfiguren inhaltliche theologische, philosophische und sonstige gelehrte Referenzen und Auseinandersetzungen deutlich stärker in den Fokus der Autorin getreten wären, da man die Haltung eines Thomas von Aquin oder eines Nikolaus von Lyra zu jüdischen Gelehrten wie etwa Maimonides wohl nur hinreichend verstehen kann, wenn man ihre Haltungen nicht nur zu den Personen, sondern auch dem ihnen zugeschriebenen Wissen untersucht. Zugleich sei jedoch eingeräumt, dass Haeberli beispielsweise durch Verweise auf zeitgenössische Rationalitätskonzepte Ansätze liefert, in welche Richtung sich weitere Forschungen orientieren könnten.

Nicht von ungefähr fällt der dritte Teil der Studie zu jüdischen Gelehrten in der mittelhochdeutschen Literatur inhaltlich am überzeugendsten aus. Zwar vermisst der Leser wie bereits im zweiten Teil eine explizite Darlegung der Kriterien, nach denen die untersuchten Texte ausgewählt wurden, doch pragmatisch überzeugt die Auswahl, indem mit dem Schwerpunkt auf der Figur des jüdischen Gelehrten in der Alexanderdichtung und der Silvesterlegende sowie jüdischen Gelehrten als Witzfiguren in Dichtungen von Hans Rosenplüt und Hans Folz Kontinuitäten und Veränderungen des christlichen Imaginariums in Verbindung mit einer philologisch sorgfältigen Textanalyse verfolgt werden können. Interessant ist es, wie die Figur des weisen Juden in den meisten späteren Alexanderdichtungen beispielsweise durch Aristoteles ersetzt wird, ohne dass Haeberli sich verleiten ließe, vorschnell nur einen grassierenden Antijudaismus als Grund anzuführen. Die Judendisputation der Silvesterlegende erweist sich als Wandermotiv, das sich in zahlreichen Textsorten mit unterschiedlichen literarischen Funktionalisierungen wiederfinden lässt. Allgemein wendet sich nach dem hier zusammengetragenen Material die Darstellung jüdischer Gelehrter im Verlauf des Mittelalters eindeutig ins Negative, so dass im 15. Jahrhundert Abgrenzungsbemühungen vermittels scharfer Polemik und beißenden Spotts dominieren. Insbesondere bei Hans Folz zeigt sich, wie er seine Vorlagen im Sinne antijüdischer Klischees umarbeitet.

Während christliche Autoren grundsätzlich so disponiert waren, dass sie vorchristliche Juden positiv sehen konnten, gilt dies nicht mehr für Juden nach der Inkarnation, deren Handeln und Denken immer mit dem Stigma konnotiert war, den wahren Messias nicht anzuerkennen. Literarische wie religiöse und gelehrte Darstellungen jüdischer Gelehrter dieser Zeitstufe zielten entsprechend häufig auf die individuelle oder kollektive Bekehrung der Juden als Erwartungshorizont. Die zwar insgesamt negativen, aber gleichwohl graduell verschiedenen Figuren jüdischer Gelehrter in spätmittelalterlichen Texten sieht Haeberli dabei vorrangig literarischen Traditionen und Motivsträngen sowie bestimmten Leserinteressen geschuldet, weniger als Reflex auf konkrete Begegnungen mit Juden in der eigenen Lebenswelt.

Insgesamt handelt es sich um eine wichtige Arbeit, die über weite Strecken das Versprechen überzeugend einlöst, eine Vorstellungsgeschichte des jüdischen Gelehrten im Mittelalter zu schreiben. Der für ein solch ambitioniertes Thema und den bis in die Patristik ausgreifenden Zeitraum recht geringe Umfang des Buches macht es unerlässlich, dass nicht alle Autoren, Texte und Motive gleichmäßig zu ihrem Recht kommen. Gilbert Crispin etwa wird in einem Absatz abgehandelt, auch Thomas von Aquin oder Meister Eckhart werden nur ansatzweise untersucht. Da der zweite Teil mit dem 14. Jahrhundert ausläuft, bleibt es bei lediglich einer Erwähnung des einflussreichen Konvertiten Paul von Burgos. Ein so wichtiger Autor wie Ramon Llull mit seinem Buch vom Heiden und den drei Weisen fehlt ganz. Doch eine solche Kritik ist angesichts des versammelten Materials und der rezipierten Forschung wohlfeil. Man sollte von Haeberlis Studie weniger eine definitive Darstellung der Figur des jüdischen Gelehrten im christlichen Mittelalter erwarten, als eine klar strukturierte, in großen Linien und doch textnah operierende Aufbereitung jahrzehntelanger Forschungsarbeiten und eine Bereitstellung von Zugängen zu mittelalterlichen Texten, die nicht nur zur interessanten Lektüre, sondern auch zum Weiterarbeiten im aufgezeigten Rahmen einlädt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension